Gedichte

Für die, die noch Gedichte lesen, obwohl es wahrscheinlich wenig Vorteil bringt...

L_o_b___d_e_r___D_i_a_l_e_k_t_i_k

Das Unrecht geht heute einher mit sicherem Schritt.
Die Unterdrücker richten sich ein auf zehntausend Jahre.
Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.
Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden.
Und auf den Märkten sagt die Ausbeutung laut:

Jetzt beginne ich erst.

Aber von den Unterdrückten sagen viele jetzt:
Was wir wollen, geht niemals.

Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
Wenn die Herrschenden gesprochen haben,
Werden die Beherrschten sprechen.
Wer wagt zu sagen: niemals?
An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
Ebenfalls an uns.
Wer verloren ist, kämpfe!
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?
Denn die Besiegten von heute sind die Sieger von morgen,
Und aus Niemals wird: Heute noch!

Bertolt Brecht
Ein Gedicht aus einer anderen Zeit:



Aus: Hans Mühle (Hrsg.), Das proletarische Schicksal. Klotz Verlag Gotha 1930
Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm' ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. (Friedrich Hölderlin, 1770-1843)
Hier kann man weitere Hölderlin-Gedichte finden.

Gedichte von Malcolm Brechtel

(Der Autor hat seine Zustimmung zur Veröffentlichung gegeben.)

konzentration

nachtstudiozeit zeit der roten lampen
schreie aus blechtrommeln rufe aus blechbüchsen
energie des unverbindlichen
zurechtrücken im computer
stilisiertes erkennen in schwarzweiß der inhalt
eines hebels ist relevant
das tiefe sprühen einer wachskerze hingegen
interessiert nur den laien aber:
schwimmendes meergrün erfüllt die atmung der fische.


  (ca. 1969)
fensterkreuze

fensterkreuze sind allgegenwärtig in der straße wo ich wohne.
frauen mit kinderwagen gehen auf ihr und rentner mit regenschirmen.
an ihrem ende steht ein bahnhof aus braunem sandstein.
gestern noch ging ich die straße entlang zu dem bahnhof
um die züge pfeifen zu hören
und um vor hölzernen fensterkreuzen zu fliehen.


  (ca. 1969)
Terrarium

Ich wünsch' sie mir in einen Glaskastenkäfig,
die billigen Gemeindepfarrer,
die verhockten Religionsstundenhalter,
die über die knöchernen Kinderköpfe,
die in den Schulbänken stillsitzen müssen,
  dornige Schleier aus Mysterium küssen.

Ich wünsch' sie mir in einen Glaskastenkäfig,
die sonntags in die Talare kriechen,
und die dann in ihren goßen Häusern
Weihrauchkessel und Avemarias
Kopftuchmüttern um die Ohren schlagen
  und junge Mädchen in Beichtstühle jagen.

Ich wünsch' sie mir in einen Glaskastenkäfig,
die Monsignores und Kardinäle
und den vertrockneten Popen im Vatikan,
die in ihren bunten Meßgewändern
auf ihren wurmigen goldenen Thronen
  über den Sünden der Menschheit wohnen.

Ich wünsch' sie mir in einen Glaskastenkäfig,
so wie den modrigen Benedikt,
den sie alle Jahre wieder enthüllen,
wenn sie mit Posaunen und sorgsam geordnet
nach Rang und Glauben durch die Straßen fließen,
  unter Lautsprechersegen ihren Himmel hissen.

Ich wünsch' sie mir in einen Glaskastenkäfig,
die da predigen vom sündigen Fleisch,
all die verbogenen Häkchen und Zölibatäre,
all die Bombensegner und Kreuzlegionäre.

(In einem Terrarium bei Rotlicht und Sand
fände' ich das Geziefer vielleicht interessant.)


  (ca. 1970)
nach dem essen

es peristaltet
die verdauung geht ihren weg
das hähnchen dessen verlust ich beklage
rückt durchs gedärm
dösen hocke ich im gestühl
zünde mir eine selbstgedrehte an
und denke an lieder
und wie sie sein sollten
schwäbischer maurer

warms bier wenns warm isch
ond kalts bier wenns kalt isch
isch nex.

ond feschter speis fer kloine stoi
ond waicher speis fer große stoi
des isch aa nex.

aber: kloine stoi ond waicher speis
ond große stoi ond feschter speis
ond wenns kalt isch a warms bier
ond wenns warm isch a kalts
des isch guat.
so hats de maurer gern
des isch a guat fers gschäft
doo laafts gschäft.


  (4.11.71)
Formalismus

Schopfwachteln haben Schneidezähne
an der hinteren unteren Schnabelspitze.

Beim fröhlichen Tanz
hatten Innenminister Genscher und Josef Neckermann
Schwarzwaldmädel im Arm


  (19.12.71)
karneval

trara trara trara der
karneval ist wieder da das
närrische treiben erreicht mit
der traditionellen karnevalssitzung
in mainz heute einen seiner
höhepunkte den vorsitz
führt dieses jahr
wieder rolf braun.


  (Stilrichtung: Trivialismus + Verfremdung. Originalzitat aus dem Fernsehen.)
feuerlöscherprüfung in einem öffentlichen gebäude

herbei tritt der feuerlöscherprüfer
in der hand ein stöckchen aus hartgummi.

mit gespannter miene holt er aus
zum kleinen schlag auf den roten behälter.

ein knappes klingen bei der berührung sonst nichts
heute ist wieder ein guter tag.



  (Bei diesem Gedicht muss man wissen, dass es während
  einer Zeit der Bombenhysterie - späte 70er Jahre - entstand.)
weltbürger im gedränge

einer
heiteren gemüts
geschmeidig sich bewegend sorglos
mit weiter geste stößt aus versehen
seinem nachbarn den ellenbogen
in den bauch
zack umpf.

jener
gebeugt sich erholend und waidwund
vom dumpfen schlag
verwunderten blicks nach oben
fragt keuchend: warum?

die antwort ergeht:
entschuldigen sie bitte die
schlechte gewohnheit
mein herr ich erbitte verständnis
denn ich bin weltbürger doch
und mein platz ist überall.
straßenkehrer

einer kehrt die straße
er hat eine aufgabe sein auge leuchtet.

einer versucht die welt zu säubern
keine leichte sache.

einer ist motiviert
weit schwingt er seinen besen.

einer schiebt seinen karren
hurtig gegen den wind.

einer tutet ins nebelhorn
achtung achtung es staubt.

zehnminuten-nocturne

droht des tages atem auch bei nacht
kann der nächte fluch gelingen
kann er jene dinge bringen
die am tage nicht bestehn.

mag den träumen dennoch nicht begegnen
wenn sie gleich den sternen schimmern
leise hör ich nur ein wimmern
wie von alten eichnen balken.

hör den wind und wie er leise atmet
sehe nicht den mond vor offnen augen
kann ein morsches boot wohl taugen
das den fluss hinab zum meere fort sich trägt?

(6. April 2004: 8:45..8:55)